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Som­mer­zeit ist Lesezeit

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Veröffentlicht am 9. September 2021 von Anita Schuler

Sommerzeit ist Ferienzeit ist Lesezeit. Unabhängig von Wetter und Ort der Erholung, immer dann ist für mich die beste Gelegenheit, mich mit einigen Büchern aus der Mediothek einzudecken, das eine oder andere aus der Second Hand Bücherei mitzunehmen – und am Ort der Musse dann für andere liegen zu lassen – und stundenlang zu lesen. Und ja, es müssen gedruckte Bücher sein, ich mag keinen eReader – schliessliche arbeite ich täglich stundenlang vor einem Bildschirm, dann will ich wenigstens in meiner Freizeit mein Lesevergnügen haptisch untermalen.

Unsere Mediothekarin Marlies Laager kennt mich in der Zwischenzeit sehr gut. Ihre Lesetipps sind absolut zuverlässig, treffsicher und Gold wert. Ich weiss, wenn sie mir ein Buch vorschlägt, wird es mir gefallen. Wenn ich selber eines auswähle, ist die Chance gross, dass ich mich von Titel oder Cover habe täuschen lassen – und bin oft enttäuscht. Das Schöne an Bücher aus der Bibliothek im Gegensatz zu den selbst gekauften ist ja: Ich muss es nicht fertig lesen! Wenn es mir nicht gefällt, stelle ich es ohne Reue zurück ins Regal und hoffe, dass einige andere mehr Freude hatte als ich aufbringen konnte.

Rezension «Das Gewicht der Worte»

Sehr viel Freude hatte ich an Pascal Merciers 572-seitigen Buch «Das Gewicht der Worte». Ja, Mercier ist der Autor von «Nachtzug nach Lissabon» – für mich ja schon mal ein Gütesiegel. Überrascht hat mich dann die Tatsache, dass hinter dem wohlklingenden Name Pascal Mercier der Schweizer Peter Bieri steckt. Wer hätte gedacht, dass hinter dem so gewöhnlichen Namen ein solch Poet steckt! Denn wahrlich, dieses Buch ist durch und durch poetisch, berührend und eine grosse Liebeserklärung an Worte und Ausdruck, Stilsicherheit und das akribische Bemühen nach dem richtigen Begriff. Kein Buch, das man auf die Schnelle lesen sollte – man verschenkte sich zuviel. Ich bewundere Pascal Mercier dafür, dass er über so viele Seiten so variantenreich mit diversen Blickwinkelwechsel, anderen Erzählperspektiven sowie unterschiedlichen Textsorten die Sorgfalt rund ums Schreiben darlegen konnte.

Die Rahmengeschichte: Simon Leyland wird irrtümlicherweise eine tödliche Krankheit diagnostiziert. Nach 10 bangen Wochen stellt sich das Urteil als grober Flüchtigkeitsfehler heraus: Was die Tomographie zeigte, war gar nicht sein Verfall sondern gehörte zum Körper eines anderen. Das Leben hat sich für Simon Leyland – in England aufgewachsen, der Liebe und Arbeit wegen nach Triest ausgewandert – grundlegend geändert. Und als er sich fürs Ableben vorbereitet und alles geregelt hat, stellt sich heraus, dass er noch lange leben wird. Was für ein Wechselbad der Gefühle! Gefühle, die er in Briefen an seine verstorbene Frau festhält – nach der (Fehl)Diagnose und nach der guten Nachricht. Er schreibt über die Bedeutung von Zeit und Natur, Geräusche und Alltäglichem, Selbstverständliches, das eine neue Bedeutung erhält, wenn man sich bewusst wird, dass das eigene Leben tatsächlich endlich ist. Und dann plötzlich hat Simon Leyland wieder alle Zeit der Welt – er stirbt (noch) nicht. Plötzlich ist Zeit nicht nur etwas Kostbares, sondern darf reuelos verschwendet werden.

Seine Gedanken teil Simon Leyland, Übersetzer, mit seinen Kindern und mit anderen Übersetzern, mit Autoren, deren Bücher er übersetzt. In seiner Arbeit ist die Sensitivität für die richtige Wörter, die Empathie für die Geschichte des Autors, die Sensitivität und Verantwortung der Erzählung gegenüber spürbar, damit die Seele des Buches bewahrt und gewürdigt wird. Und immer wieder diskutieren Autoren, Übersetzer, Verleger, Freunde über Worte, Begriffe, Ausdrücke – wie man Gefühle richtig umschreiben kann und in welcher Sprache dies besser oder weniger treffend möglich ist.

So viele Themen werden in diese Geschichte verpackt: Güte und Grosszügigkeit, Gerechtigkeit statt Recht, Barmherzigkeit und Ehrfurcht, die Würde im Leben wie vor dem Tod. Wie Sprache trennt, wenn Ärzte als «weisse Kaste» ihre Position und ihre Eitelkeit mit ihrem Jargon zementieren und sich somit vom Patienten distanzieren statt ihnen helfen. Ähnlich bei Anwälten. Und wie sich darum Simon Leylands Kinder von ihrem geliebten Beruf abwenden, weil sie wegen der so missbräuchlich eingesetzten falschen Sprache in ihrer Berufung missverstanden fühlen und sich darum enttäuscht – im wahrsten Sinne des Wortes! – neu orientieren.

Die 572 Seiten sind (ge)wichtig – unglaublich poetisch, wunderbar tiefschürfend und trotz allem leicht in Geschichten verpackt! Absolute unbedingte Leseempfehlungen für alle, die Sprache lieben!

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